Vor 60 Jahren eine dunkle Stunde für Sinsheim |
Deportation der letzten Juden der Stadt am 22 Oktober 1940 |
von Wilhelm Bauer |
Sinsheim.
Nach der berüchtigten "Reichskristallnacht" vom 9. auf den 10. November 1938, in der auch die Sinsheimer Synagoge an der Kleinen Grabengasse zerstört wurde, herrschte zunächst fast zwei Jahre lang eine geradezu trügerische Ruhe, und die noch in Sinsheim ansässigen zwei jüdischen Familien Kohn und Ledermann glaubten, dass nun das Schlimmste überstanden wäre. Mit dem Überfall auf Polen war der Zweite Weltkrieg ausgebrochen und die Naziführung war bis in die unteren "Etagen" voll beschäftigt, die schnellen Siege über Polen und Frankreich zu bejubeln. Doch dann kam jener von langer Hand vorbereitete schwarze Tag, der 22. Oktober 1940, ein Dienstag, an dem das Verhängnis über die noch in ihrer angestammten Heimat verbliebenen jüdischen Einwohner hereinbrach. |
Die
beiden NS-Gauleiter und Reichsstatthalter von Baden und der Saarpfalz, Robert Wagner und Josef Bürckel, ordneten auf eigene Verantwortung die sofortige Verhaftung und Abschiebung sämtlicher noch in ihrem Bereich wohnenden Juden an. Für die Betroffenen kam diese Aktion völlig überraschend; sie wurden von der Verhaftung und Ausweisung erst unmittelbar vor der Festnahme und dem Abtransport unterrichtet. Die Frist, die ihnen für die Vorbereitung zum Abtransport gegeben war, belief sich auf 15 bis 30 Minuten. Mehr als einen kleinen Handkoffer, 100 Reichsmark pro Person und für zwei Tage Verpflegung durfte keiner der Deportierten mitnehmen. |
Das
Ehepaar Moritz und Fanny Ledermann, 75 bzw. 69 Jahre alt, wohnte seit Jahrzehnten in ihrem Hause Muthstraße Nr. 11. Eine Nachbarin war zufällig Augenzeugin, als die beiden alten Leute in aller Frühe aus ihrem Hause geholt, mit Mantel, Hut und Handschuhen bekleidet, schreckensbleich und sprachlos vor Angst, auf einen mit einer Plane bedeckten Lastwagen getrieben wurden. Der Lkw entfernte sich in schneller Fahrt; bis die Nachbarn recht merkten, was da geschah, war alles gelaufen. Ähnlich erging es den Eheleuten Max und Emilie Kohn, mit 75 bzw. 69 Jahren genauso alt wie die Ledermanns, und deren kränklicher Tochter Erna Kohn, 36 Jahre alt. Vom Karlsplatz kommend fuhr der Lkw in den Hinterhof des Hauses Kohn. Gestapo-Beamte holten die drei Bewohner aus den Betten und schrien sie an, sich sofort fertig zu machen. |
Der
neben den Kohns wohnende Metzgermeister Adam Schiele, seit langer Zeit mit den Kohns befreundet, stellte sich den Gestapoleuten drohend und schimpfend in den Weg, während seine Ehefrau und die Tochter Else ihren vor Schreck gelähmten Nachbarn beim Ankleiden und Kofferpacken behilflich waren. Die Kohns wollten nicht ihre besten und wärmsten Kleider bzw. Mäntel anziehen, da sie an eine baldige Rückkehr glaubten, doch die Familie Schiele, die die Situation sofort klar erkannte, überzeugte sie, die besten und wärmsten Kleidungsstücke anzulegen. Es gab einen ergreifenden Abschied der befreundeten Familien, als der Lkw in schneller Fahrt aus dem Hinterholf wegfuhr. Der Metzgermeister Adam Schiele kam wegen seiner solidarischen Einstellung zu seiner jüdischen Nachbarn kurzzeitig in Haft. |
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Die festgenommenen Juden wurden zu Sammelplätzen in
größeren Städten gebracht und von dort in Sonderzügen über Belfort in das noch unbesetzte Frankreich abgeschoben. Bis zu drei Tage waren die überfüllten Züge unter- wegs, bis sie schließlich bei der Ortschaft Gurs bei strömenden Regen ihr Ziel erreichten. Die Ortschaft Gurs, bei der sich das "Camp de Gurs" befand, liegt in der Südwestecke Frankreichs, etwa zwischen Pau und Biarritz. Das Camp war ein verkommenes Barackenlager, in dem nach dem spanischen Bürgerkrieg (1936-39) Flüchtlinge und ehemalige Soldaten der spanischen republikanischen Armee für einige Zeit untergebracht waren. Das Lager befand sich in einem unbeschreiblichen Zustand: keine sanitären Anlagen, die, Wege verwandelten sich in kurzer Zeit in tiefen Morast; Hunger, Erschöpfung und Krankheit rafften die Menschen - vor allem Kinder und alte Leute - schnell dahin. |
Moritz
Ledermann aus Sinsheim starb bereits am 6. November 1940, wenige Tage nach der Ankunft. Erna Kohn gelang es mit Hilfe eines Missionars, den sie während eines Kuraufenthaltes in der Schweiz kennen gelernt hatte, aus dem Lager zu entkommen und auf Umwegen in die USA zu emigrieren, wo sie vor wenigen Jahren verstorben ist. Ihre Eltern wurden in das Lager Rivesaltes nördlich von Perpignan verlegt. Emilie Kohn starb dort am 7. August 1941 und ihr Ehemann am 29. Dezember 1941, also vier Monate später. |
Etwa
120 Juden aus 18 umliegenden Gemeinden wurden am 22. Oktober 1940 nach Gurs deportiert; die meisten aus Neidenstein, Hoffenheim, Neckarbischofsheim und Wollenberg. Im August 1942 brach dann das furchtbare Unheil über die in Gurs und den Außenlagern zurückgebliebenen Internierten herein. Im Zuge der von Heydrich und Eichmann ausgeheckten "Endlösung" wurden Transporte zusammengestellt, und für die meisten der am 22. Oktober 1940 aus Baden deportierten Juden begann der letzte Weg in die Gaskammern von Auschwitz und Lublin-Majdanek. |
Im
Lager Gurs starben allein 1250 Juden. Die Häuser und Vermögen der Familien Ledermann und Kohn wurden durch die "Reichsfinanzverwaltung" beschlagnahmt. Bereits am 23. Oktober 1940 meldete der badische Gauleiter Wagner nach Berlin: "Baden als erster deutscher Gau judenfrei!". Am 1. November 1940 erging vom Bezirksamt - Abteilung jüdisches Vermögen - eine Verfügung an das Bürgermeisteramt Sinsheim, das gesamte Mobiliar, Einrichtungs- u. Gebrauchsgegenstände sowie Kleider, Schuhe, Wäsche etc. aufzunehmen und in einem Verzeichnis festzuhalten. Im Frühjahr 1941 wurde dann alles öffenltich versteigert. Die jüdische Gemeinde Sinsheim hatte damit ihr Ende gefunden. |
Eine
Gedenktafel am Standort der ehemaligen Synagoge und der noch erhaltene Judenfriedhof am Krebsbergweg erinnert die Nachwelt an die einst blühende jüdische Glaubensgemeinschaft in Sinsheim. |